27. Festival Sandstein und Musik
Es muss ja nicht immer das Weihnachts- oratorium sein: andere Mütter haben auch schöne Töchter – und andere Komponisten erst recht auch schöne Lieder! Gerade das romanti- sierende und um biedermeierliche Heim(e)lichkeit bemühte lange 19. Jahrhundert ist reich an etlichen Weihnachtsgeschichten. Wenn’s passt, gerne auch mal abseits von Krippe, Stall und Stern. Was hat es nur damit auf sich, dass wir uns – Jung und Alt – an Weihnachten gerne gegenseitig Märchen erzählen? Und dies, obwohl gerade die meisten Winter- und Weihnachtsmärchen doch oft so schaurig und traurig sind, von einsam frierenden Kinderchen, verlorenen, mit Eiskristallen ins Herz gestochenen Angehörigen und glücklos verdorrenden Tannbäumen reden. Advents- und Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Die Zeit des Wartens auf den, der da kommen wird – ob nun in rotem Mantel oder schlicht in Windeln ge- wickelt – vertreiben sich die Menschen von alters her mit Geschichten. Für den Wissenschaftsjournalisten Werner Siefer ist daher schon lange klar: was den Menschen zum Menschen macht, ist nicht allein der aufrechte Gang, sondern die Fähigkeit zum Erzählen. Der „homo nar- rans“, der erzählende Mensch redet viel. Wenn der Tag lang ist auch gern mal zu viel – und eben gern auch Märchen. Dass auch die ein oder andere neutestamentarische Story dabei ist, ist für den Hamburger Rentner und Kirchenkritiker Walter Witt schon längst klar: „Die Bibel ist ein Märchenbuch“. Da können also nun doch wieder die schönen Weihnachtslieder vom Christbaum, den Hirten und Königen, Simeon und Co singen, die uns Peter Cornelius 1856 nach eigenen Texten komponiert hat. Zwei Jahre vor Cornelius’ Liederzyklus wird einer geboren, dem in späterer Zeit nicht weniger erwar- tungsfroh entgegengefiebert wird. Kein Messias zwar, aber doch ein Märchenkundler: Bei Richard Wagner lernt er sein Handwerk, setzt einige Seiten des „Par- sifal“ gar selbst in Partitur und mausert sich mit seinen Opern allmählich zum legitimen Nachfolger des Meisters vom Grünen Hügel: Engelbert Humperdinck. Anders als Wagner nimmt er nicht die nordischen Sagen zum Vorbild für seine Kompositionen, sondern eben Märchen und Volkslieder. „Hänsel und Gretel“ bleibt sein größter Erfolg – der Jahr um Jahr an etlichen Theatern im In- und Ausland Kinder- und Erwachsenenherzen höher schlagen lässt. Seine nicht minder schönen, heimeligen Weihnachtslieder zeugen ebenfalls von der Meisterschaft, die Humperdinck im Komponieren für Kinder erlangt hat. Einige der Lieder hatte er darüber hinaus in „Bübchens Weihnachts- traum“, einem musikalischen Krippenspiel für Kinder, das nebst eigenen Stücken auch präexistente Weih- nachtslieder – schon damals Klassiker! – einbezieht, wiederverwendet. Wie bunt und sinnenfröhlich, nostalgisch und letzt- lich auch konservativ protektionistisch das musika- lische Weihnachtsfest sein kann, zeigen die Arbeiten Engelbert Humperdincks. Denn nicht nur „Kinder brau- chen Märchen“, wie der Psychologe Bruno Bettelheim 1976 in seiner tiefenpsychologischen Studie über die Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ befun- den hat: Gerade zur Weihnachtszeit halten wir alle gerne inne, vergegenwärtigen uns in Märchen eine moralinsaure, romantisch verschneite und von Kerzen- wachs parrafingeschwängerte Vergangenheit, wo die Welt noch einfach und eindeutig war. Und für man- che die Musik vielleicht auch noch schöner klang. Keine Coca-Cola-Trucks Was war, bevor er, dieser große, dicke – alte? – Mann mit langem weißen Bart mit hunderten von Coca- Cola-Trucks durch die Winter-Wunder-Lande fuhr, um nachhaltig unser von unnachgiebigem Konsum bestimmtes Bild von Weihnachten und seinem größ- ten Ikon – nämlich von ihm selbst: dem Weihnachts- mann – zu prägen? Es wurden andere Weihnachts- geschichten erzählt und besungen. Wenn es nicht um Märchen oder Geschichten aus der Bibel sich handelte, war das Christkind die bestimmte Figur, wenn es um’s Kinderbescheren ging. Darstellungen des Christkindes reichen etwa bis ins Mittelalter zurück. Eine der hierzulande noch immer bekanntesten Abbildungen findet sich in Heinrich Hoffmanns 1845 erschienenem Bilderbuch „Struwwelpeter“: blondge- lockt, mit Krone und Engelserscheinung schwebt es vor uns, bringt uns unhörbar und unsichtbar die Gaben an den Tisch. Da war kein Platz für den dick- bauchigen, roten Kerl, der geradewegs die Schorn- steine hinuntersaust und seine jährlich mehr, größer und teurer werdenden Geschenke unter den Baum legen will. Aber dann hat er es irgendwann doch geschafft. Ist am Christkind vorbei gezogen und nimmt nun den ersten Platz der hundert besten Weihnachts- charaktere ein: So ein alter, erfahrener und mit allen Wassern gewaschener Mann ist dann halt schon gegenüber so einem Kind durchsetzungsfähiger. Bleibt nur die Frage, warum wir uns eigentlich zwischen einem jungen und einem alten Menschen entscheiden müssen? Weihnachten nichts für 10- bis 65-Jährige? 1847, nur zwei Jahre nach Hoffmanns Sensations- erfolg des „Struwwelpeter“ – einem aus der Not geborenen Weihnachtsgeschenk für den dreijährigen Sohn des Autors – verfasste der französische Komponist Adolphe Adam mit dem „Cantique de Noël“ ein bis heute in aller Welt beliebtes Weih- Menschsein – das ist nicht allein der aufrechte Gang Von Peter Motzkus 64 Tilman Riemenschneider (Werkstatt): Singende und musizierende Engel, um 1505, Lindenholz
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