27. Festival Sandstein und Musik
Ein Quartett aus Stahlcelli spielt in der Evangelischen Kirche in Lohmen – über eine solche Ankündigung liest man kaum einfach hinweg. Die einen sind verwundert, andere neu- gierig. Es ist ein besonderes Konzert zum Ernte- dankfest, das 2019 an diesem ersten Oktober- wochenende begangen wird. Stahl, Kirche, Andacht – passt das zusammen? Es ist auf jeden Fall eine Seltenheit und im wahrsten Sinne des Wortes eine Merkwürdigkeit, die vier Musiker des Stahlquartetts zu hören. Denn diese Klänge gehen einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Mit Jan Heinke, Alex- ander Fülle, Peter Andreas und Michael Antoni geht man jedes Mal auf neuerliche Sinnesreise. Sich auf „Stahlmusik“ einzulassen erfordert von allen Betei- ligten – Interpreten genauso wie Zuhörer*innen – ein gerüttelt Maß an Offenheit, Freude am Experi- ment und Entdeckergeist. Sinnlich Stahl wächst nicht auf Feldern oder wird im Wald geerntet. Stahl evoziert Gedanken an Industrie, Technizismus, Moderne, Kälte, Männlichkeit, auch brutale Härte. Sinnliche und Selbstwirksamkeits- erfahrungen, wie man sie mit herkömmlichen, eta- blierten Instrumenten aus Holz macht, scheinen doch weitestgehend unterbunden. Auch die Nähe zum Instrument – so intim bis gar erotisch wie das Vio- loncello aus Holz ist wohl kein anderes Instrument – kann ein Stahlcello nicht bieten. Ein derart großflä- chiger, enger Körperkontakt, wie er die Spielenden in Resonanz, ins Mitschwingen mit ihren Celli ver- setzt, findet hier nicht statt. Das Instrument schwingt nicht mit den wiegenden Emotionen des Spielers, geweckt durch musikalische Empfindung und so, wie es das Publikum erwartet, quasi als Garant dafür, dass der Interpret ganz in die Musik versunken ist. Wo also bleibt bei Stahlcello die Sinnlichkeit? Für Jan Heinke, den Gründer des Stahlquartetts, schließt sich dies alles nicht aus. Der Stahl, den er im Konzert zum Klingen bringt, hat für ihn und seine Kollegen durchaus eine eigene sinnliche, sogar berührende Komponente: Stahl ist nämlich auf seine Art Romantik, assoziiert Abenteuergeist, Bergbau, Zivilisation, Ungewissheit. Er steht für Dinge, die uns, die Sachsen, die Deutschland geformt haben. Der vielfach verdinglichte, mitnichten nur pragmatisch, sondern oft künstlerisch oder gestalterisch ein- gesetzte Werkstoff ist Teil unserer Kultur. All das kommt auch in der Musik des Stahlquartetts zum Tragen. Die große Besonderheit dieser Formation ist die Spannbreite ihres ästhetischen Backgrounds und folglich ihres Repertoires. „Wir haben bei uns einen Achtsamer Stahl Von Peter Motzkus 52 Jazzer, einen Weltmusiker, einen Klassiker und einen Zeitgenossen. Jeder bringt etwas davon mit ein“, so Jan Heinke. Zu den Proben bringen alle Stahl- cellisten ihre Werke mit – sowohl präexistente als auch eigene Kompositionen –, für deren Umsetzung und Interpretation sie dann jeweils selbst verantwort- lich zeichnen: „So entsteht ein buntes Repertoire, dass sich keinem Genre fest zuordnen lässt. Wir las- sen uns jedes Mal wieder gerne auf diese Entde- ckungsreise ein – auf die wir unser Publikum natür- lich mitnehmen wollen.“ (Ent-)Spannend Der Boden vibriert bei jedem gespielten Ton. Den Körper reißt das mit – nur nicht plötzlich, denn Impulsivität liegt den Instrumenten fern. Ein zutiefst sensorischer Eindruck, der sich dort einstellt. „Stahl- musik“ ist Musik, die nicht nur ins Ohr, sondern auch durch Mark und Bein geht. Die Langsamkeit der Musik, die aus der Bauweise und Beschaffenheit der Stahlcelli resultiert – die Töne brauchen lange, um überhaupt erst in Schwingung zu geraten – mag zu Beginn irritieren. Doch auch, wenn die Art der Inter- pretation, die nicht auf Virtuosität aus ist, ein geführ- tes beziehungsweise gerichtetes Hören kaum ermög- licht, handelt es sich beim Stahlquartett nicht um ein Ensemble, das mit Schlagwörtern wie „Kontem- plation“, „New Age“, „Meditation“ oder „Wellness“ charakterisiert werden kann. Damit täte man den Musikern unrecht. Die durch die Bauweise der Stahl- celli oktroyierte Langsamkeit des Spiels wollen die Quartettmitglieder nicht als „Entschleunigung“, gar als bewusstes Statement gegen die Schnelllebigkeit der heutigen Gesellschaft verstanden wissen – wie der Soziologe und Beschleunigungskritiker Hartmut Rosa sie beispielsweise beständig thematisiert. Darum geht es zumindest nicht unmittelbar. Die Musik des Stahlquartetts fordert aufgrund ihrer weitgespannten melodischen und harmonischen Flügel jedoch ein anderes Hören, das ein Hören nebenbei kaum sein kann. Sie verlangt nach einem Bewusstsein für die Form und ein achtsames Ohr für feinste Nuancen, die selbst in sehr guten Werken aus dem Bereich der elektronischen Musik nicht zu finden sind. Tragend Sicher: Die ausgesprochen ruhigen und langge- zogenen Klänge laden dazu ein, die Augen zu schlie- ßen und sich von der Atmosphäre – gerade jener des Kirchenraums – hinfort tragen zu lassen. Diese Rezeption sei den Zuhörer*innen auch unbenommen. Es gilt gleichwohl, einer Erwartungshaltung zu widersprechen, die ein allzu entspannungsorien- tiertes Berieseln-Lassen durch stählerne Klang- duschen verspricht. Mit Stahlcelli, wie sie der Dresdner Musiker Jan Heinke entworfen und realisiert hat, lassen sich Klänge erzeugen, die sehr langsam ein- und ausschwingen – so langsam, dass sich die Wahrnehmung von Ausdruck und Strukturen in der Musik weitet.
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