27. Festival Sandstein und Musik
Dass Janácek sich erst am Ende seines Lebens mit ihr auseinandersetzt, zeigt, wie hoch sein Respekt vor dieser Form ist. Welche Meisterschaft aus sei- ner Sicht erst erreicht werden musste, um dem riesi- gen Fundus an Quartettkompositionen auch wirklich Neues hinzufügen zu können. Was hat ihn zu diesem Werk bewogen? Wer hat ihn dazu inspiriert? In einer Zeit der höchsten kreativen Schaffensphase und des kompositorischen wie auch endlich wirtschaftlichen Erfolgs – Meisterwerke wie die Opern „Katja Kaba- nova“, „Das schlaue Füchslein“, „Die Sache Makro- poulos“ und „Aus einem Totenhaus“ sowie die „Gla- golitische Messe“ und die „Sinfonietta“ entstehen alle im letzten Lebensjahrzehnt – glaubt er einen Zugang gefunden zu haben: Das psychologische Drama um Liebe und Eifersucht, Sexualität und Mord in Leo Tolstois Novelle „Die Kreutzersonate“ (1887/89). Jahre zuvor hat Janácek sich schon einmal von diesem Stoff inspirieren lassen. Das 1908/09 ins Werk gesetzte Klaviertrio ist allerdings nicht mehr erhalten. Möglicherweise ist es zu gro- ßen Teilen im Streichquartett aufgegangen. Der Musik merkt man Janáceks heftiges Ringen mit der Gattung an. Fast gänzlich fehlt es an traditionel- ler Harmonik, homo- oder polyphoner Gestaltung. Die psychologisierende Dramatik der Tolstoischen Erzäh- lung steckt in geradezu jedem Takt und es knistert und kriselt an allen Ecken. Zerrüttung, Entfremdung, Man schreibt das Jahr 1797. Joseph Haydn, mit knapp 65 Jahren bereits hoch betagt und vom unmusikalischen Nachfolger seines langjährigen Arbeitgebers – des ungarischen Fürsten Nikolaus Esterházy – sieben Jahre zuvor in frühzei- tige Pension geschickt, ist ein europaweit gefeierter Komponist und gerade aus London zurückgekehrt. Haydn ist seit 1790 also selbstständiger Musiker und bleibt bis zu seinem Tod 1809 ohne direkte Anbin- dung an einen Hof. Er nutzt die gewonnene Freiheit, um in England seine neuen Werke zu präsentieren und wird auf der Insel groß gefeiert. Seine umjubel- ten Konzerte lassen ihn beizeiten an die Annahme der englischen Staatsbürgerschaft denken. Doch Haydn entscheidet sich anders und kehrt zurück nach Wien. Er ist zwar schon am Ende des Herbstes seines Lebens, aber die großen Werke, die seinen Nachruhm begründen, sollten erst noch kommen: In seinem neu gebauten Wiener Domizil entstehen nicht nur die letzten, bedeutenden Streichquartette, sondern auch die Oratorien „Schöpfung“ und „Jah- reszeiten“. Eine kreative Schaffensphase beginnt, deren Ende der Komponist selbst nicht abzusehen vermag. Kein Wunder also, dass ihn der Habsburger Hof bei seiner Rückkehr beauftragt, zur Geburtstags- feier des letzten Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Franz II., etwas zu kom- ponieren. Seine (unfreiwillige) Wahl fiel auf einen Text des Landsmannes und Freimaurerkollegen Lorenz Leopold Haschka. Der Wortlaut des Gedich- tes: „Gott erhalte Franz, den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz!“ Das später als Kaiserquartett (Hob. III:77) in die Geschichte eingehende Stück für zwei Violinen, Viola und Violoncello kommt somit in die Welt. Das Lied – noch war es nicht dasjenige der Deutschen – bleibt bis zum Kriegsausbruch 1918 und dem damit einhergehenden Zerfall der Öster- reichisch-Ungarischen Monarchie die Kaiserhymne des Alpenimperiums. Muße und Muse Zwischen all diesen Großaufträgen und Gelegen- heitswerken entsteht auch die Komposition mit dem klingenden Beinamen „Sonnenaufgangsquartett“ (Hob. III:78). Die sechs Streichquartette dieses op. 76 sind die letzten Exemplare einer Gattung, die „Vater Haydn“ dereinst begründet und der er unzählige Werke gewidmet hat. Die naturschöne Assoziation der dem Grafen Johann Georg von Erdödy zugeeig- neten Komposition wird ihr aufgrund des ersten Satzes eingebracht, in dem sich eine leise Geigen- melodie aus der dunklen Fläche der anderen Streicher zu einem wahrhaft strahlenden Fortissimo emporschwingt. Naturbezug oder aber gleichnishaftes Nachem- pfinden dieser ist für die Zeit um 1800 ein beliebtes Sujet gerade der Instrumentalmusik. Im Jahr vor der Rückkehr Haydns auf den europäischen Kontinent veröffentlicht in Berlin der Dichter Ludwig Tieck die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Kloster- bruders“ seines engen Freundes Wilhelm Heinrich Wackenroder. Mit diesen kunsttheoretischen Schrif- ten, fiktiven Biographien und Bildbetrachtungen – vor allem der (italienischen) Renaissance-Maler – be- gründen sie die deutsche Frühromantik und setzen Gedanken einer neuen, von Natur durchfluteten Kunst-Religion in die Welt. Es ist vor allem eine Ästhetik der Jungen. Wackenroder ist erst 24, als er zwei Jahre nach der Veröffentlichung an Typhus stirbt. Aber die neuen Gedanken einer Musik als übergeordnete Sprache sind seitdem unumstößlich in den Köpfen und Herzen vieler Künstler*innen sowie des begeisterten Publikums verankert. 1923, im hohen Alter von 69 Jahren verfasst der tschechische Komponist Leoš Janácek sein erstes Streichquartett. Janácek, eher den großen Formen und der Vokalmusik mit seinen im Tschechischen be- sonderen sprachmelodischen Konstellationen zuge- neigt, widmet sich nur hin und wieder der Kammer- musik: Zur „Königsdisziplin“ Streichquartett trägt er gar nur mit zwei Werken überhaupt bei. Sieht er die Gattung als ausgeschöpft, ja womöglich überholt an? Alterswerke voller Kreativität und Intimität Von Peter Motzkus 36 Caspar David Friedrich (1774-1840): Morgen im Riesengebirge. Nach ersten künstlerischen Erfolgen 1805 unternahm der Maler in den darauffolgenden Jahren Reisen nach Norddeutschland, darunter nach Rügen, Nordböhmen, in den Harz sowie ins Riesen- gebirge.
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