27. Festival Sandstein und Musik
Wer dieses Konzert besucht, landet – zu- mindest akustisch – in der „Barrio de Tango“, der Vorstadt des argentinischen Tangos. Welche Rolle sie spielt, erfährt, wer sich ein wenig mit der Geschichte des Tanzes beschäftigt. Entstan- den ist er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber nicht etwa in den eleganten Vierteln einer intellektuellen und kulturellen Oberschicht, sondern in den verarmten Stadtteilen Argentiniens und Uru- guays – vor allem in den Hafendistrikten von Buenos Aires und den Slumgebieten am Río de la Plata. Deswegen ist der Tango auch weit mehr als ein Tanz, er ist Lebensgefühl. Dessen Faszination kam mit der Zeit auch in den Vorzeigevierteln an. Um 1910 war der Tanz aus den Vororten von Buenos Aires bis in die Cafés der Innenstadt vorgedrungen. In den Folgejahren gelangte er in Paris und London zu inter- nationaler Anerkennung. In Argentinien entwickelte sich der Tango bald zu einem von allen Gesellschafts- schichten akzeptierten Nationaltanz, wodurch er zu einem wesentlichen Symbol im Kampf um die natio- nale Identität des Landes wurde. Den Ursprüngen der südamerikanischen Tradition sehr nahe Aber auch in Europa und Nordamerika löste der Reiz des Exotischen in den ersten beiden Jahrzehn- ten des 20. Jahrhunderts eine wahre Tangomanie aus. Damit er für die europäischen Ballsäle gesell- schaftsfähig wurde, musste der Tanz jedoch einigen Veränderungen unterzogen werden. Auf diese Weise wandelte er sich in Europa zum standardisierten Gesellschaftstanz im 2/4-Takt mit den so typischen ruckartigen Bewegungen. Während das goldene Zeit- alter des Tangos in Südamerika bis in die 40er-Jahre anhielt, kam der Tanz in Europa schon um 1930 aus der Mode. Bis kurz vor die Jahrtausendwende kannte man hierzulande fast ausschließlich die europäische Variante als Bestandteil des Standard- und Latein- Repertoires der Tanzschulen. Erst die Tangowelle, die Ende der 90er-Jahre einsetzte, hat auch das argentinische Original wieder in Europa etabliert. Zu den Musikern, die die inzwischen große Dresdner Tango-Szene von Anfang an mitgeprägt haben, ge- hört Jürgen Karthe. In verschiedenen Formationen, die in Größe und Besetzung ganz unterschiedlich sind, vermittelt der Bandoneonist das argentinische Lebensgefühl hierzulande. Eine dieser Formationen ist das Ensemble Cuarteto Bando, das in der Auswahl der Instrumente den Ursprüngen der südamerika- nischen Tradition sehr nahe kommt. Die ersten Tango-Musiker traten in Trios mit Violine, Klavier und Bandoneon auf. Später waren die „klassischen“ Tango-Ensembles Sextette mit zwei Violinen, zwei Bandoneons, Klavier und Kontrabass. Astor Piazzolla war es dann, der zu den gängigen Tango-Instrumen- ten noch die Gitarre hinzufügte. Der argentinische Bandoneonist, Arrangeur und Komponist gehört zu den mit Abstand bekanntesten Tangomusikern – und das, obwohl gerade er die Musik seiner Heimat revolutionierte. In der Lehre bei alten Tango-Meistern aus Argentinien und Uruguay Piazzollas Neuerungen gingen weit über die Än- derungen in der Ensemble-Besetzung hinaus. So wurde er zum Begründer des sogenannten Tango Nuevo, einer avantgardistischen Form, die ab den 1950er-Jahren mit den gewohnten Tangoklängen konkurrierte. In dieser kaum mehr tanzbaren Variante verschmolz die argentinische Folklore mit Elementen des Jazz und der zeitgenössischen Musik. Von sei- nen Verfechtern als „Tango-Revolution“ bejubelt, fand der neue Stil von Anfang an seine Anhänger eher in Europa und den USA als in Argentinien oder Uruguay. Bei den alten „tangueros“ stieß der neue experimentelle Tango-Kompositionsstil auf Ablehnung. Dennoch gilt die von Piazzolla einge- führte Besetzung mit Violine, Gitarre, Klavier, Bass und Bandoneon bis heute als Standard für moderne Tango-Ensembles. Davon abweichende Varianten reichen bis hin zu ganzen Tango-Orchestern, wie beispielsweise das ebenfalls von Jürgen Karthe gegründete „Gran Orquesta de Tango Carambolage“. Eine reduzierte Kammerbesetzung lässt allerdings mehr Raum für das differenzierte solistische Spiel des Bandoneons, das Instrument, ohne das der argentinische Tango nicht denkbar ist – in welcher Besetzung auch im- mer. Jürgen Karthe, der ursprünglich Akkordeon spielte, hat das Bandoneon gründlich studiert. Nicht nur in der Heimat, er ist dafür auch weit gereist. Über die Zwischenstation Rotterdam, wo er sich ein halbes Jahr lang im Bandoneonspiel ausbilden ließ, führte ihn die Reise zur Quelle: Dort hatte er die nicht vielen vergönnte Möglichkeit, bei bekannten Tango- Meistern aus Argentinien und Uruguay zu lernen. 1994 entstand als erstes Ensemble das Sextett Andorinha, das zwölf Jahre bestand. In dieser Zeit reiste Jürgen Karthe schon zu bedeutenden euro- päischen Tango-Festivals und trat auch in ganz Deutschland auf. Doch Andorinha sollte nicht das einzige Tango-Projekt bleiben. Und es blieb auch nicht nur beim Musizieren. Aus der Klangfaszination entwickelte sich ein ausgeprägtes Interesse für die Geschichte des Instruments. Zum ersten Mal flog der Musiker 1997 nach Buenos Aires – damals für eine Fernsehproduktion zur Geschichte des Bandoneons. Seine Recherchen setzte er auch danach fort. Längst hat er sich ein beachtliches Experten-Netzwerk auf- Vom exportierten Tonerzeuger zum importierten Lebensgefühl Von Dorit Kreller 20 Wenngleich der Name „Kleines Prebischtor“ etwas vermessen erscheint gegenüber dem berühmten böhmischen Prebischtor, so ist diese Felsbrücke doch ein besonderes Naturwunder. Zusammen mit den Wurzeln der großen Buche bietet es einen pittoresken Anblick.
RkJQdWJsaXNoZXIy NTM3MTM=